Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit der Präsenz von Diversität in der deutschen Buchlandschaft, da ich neben meinen stereotypen Lieblingsgenres auch gern ein wenig über den Tellerrand schauen möchte. Bei meiner Recherche bin ich auf den Roman Mein Bruder heißt Jessica aufmerksam geworden. Da ich den Autor John Boyne von Der Junge im gestreiften Pyjama kannte, schien mir das Buch eine gute Lektüre zu sein. Leider täuschte mich der erste Eindruck und ich kann es nur eingeschränkt empfehlen. Was mich beim Lesen gestört hat und was ich dennoch gelungen fand, erzähle ich euch in diesem Beitrag.
Ich bin als Junge auf die Welt gekommen, aber seit ich denken kann, glaube ich, dass da irgendwo ein Fehler gemacht wurde. […] Es ist, als wäre der Körper, den ich habe, nicht der Körper, der für mich gedacht war.
Mein Bruder heißt Jessica, S. 105.
Worum geht es?
Sam ist dreizehn und für ihn ist sein Bruder Jason der tollste Bruder der Welt. Die Mutter der beiden ist Politikerin und möchte unbedingt die nächste Premierministerin von England werden, der Vater arbeitet als Privatsekretär der Mutter. Beide Eltern sind sehr mit ihrem Job beschäftigt und die Kinder laufen “so nebenher”. Dieser Alltag ist für alle Beteiligten in Ordnung, bis Jason eröffnet, dass er transgender ist.
Ein Großteil des Buches beschäftigt sich daraufhin mit der Gefühlswelt des jüngeren Bruders, Sam, der mit einem Mal die Welt nicht mehr versteht und diese Neuigkeiten nur schwer verarbeiten kann. Doch auch die Reaktion der Eltern ist alles andere als mitfühlend. Die Geschichte erzählt den Weg der Familie von Jasons Offenbarung bis hin zu einer Übereinkunft etwa vier Jahre später.
Rezension
Die Geschichte wird ausschließlich aus Sams Perspektive erzählt. Wie geht ein jüngeres Geschwisterkind damit um, wenn der große Bruder eigentlich eine Schwester ist? So viel vorab: es wird schwierig. Die Beziehung von Sam und Jason zerbricht fast, wobei beide es sich nicht leicht machen. Ich finde jedoch, dass Sam hier als eher untypischer Jugendlicher dargestellt wird. Ich habe die Generation von dreizehn bis fünfzehn als sehr weltoffen und tolerant kennengelernt (und ich kenne dank meines Berufs viele Jugendliche in dem Alter), weshalb mir Sams Reaktionen und generell sein Verhalten teilweise absolut überzogen vorkamen. Beispielsweise betreibt er, als es dann relevant wird, ständig Deadnaming, was ich für einen Transgender Roman definitiv unpassend finde, vor allem, da das Thema nicht angesprochen wird. Allgemein hat Jason, der ja eigentlich die Hauptrolle spielt, nur wenig Präsenz, stattdessen wird sich auf Sams Reaktionen und auf seine Meinung fokussiert.
Sam ist allerdings gar nicht der Charakter, mit dem ich in der Geschichte ein “Problem” habe, sondern die Eltern der beiden. Ich habe selten so ignorante und weltfremde Eltern kennengelernt. (Der Vater schlägt als “Lösung” sogar Antibiotika (!) oder Elektroschocktherapie (!!!!!) vor) Insgesamt hören sie ihren Kindern kaum zu, lassen sie nicht zu Wort kommen oder ignorieren ihre Meinungen. Es ist daher kein Wunder, dass Jessica im Laufe der Handlung zur Tante flüchtet, um endlich in Ruhe mit sich selbst und den Konsequenzen, die ihre Entdeckung für sie haben, beschäftigt sein zu können.In so einem Haushalt wäre glaube ich jeder geflüchtet. Das wäre alles irgendwie in Ordnung, wenn es in einen entsprechenden Kontext gereiht worden wäre, denn leider sind Unverständnis, Ausblenden und obstruse “Therapieansätze” Reaktionen, die noch immer viel zu oft auf ein solches Outing folgen. Doch leider passiert nichts dergleichen und das ist nicht nur eine vergebene Chance, sondern schlichtweg falsch. Das Buch hätte eine Inspiration werden können, der Umgang mit diesem wichtigen Thema war dafür jedoch schlichtweg zu oberflächlich und unsensibel.
Das Ende hat mich ein wenig mit der vorherigen Handlung versöhnt, allerdings bricht das Buch an der Stelle ab (bzw. lässt vieles aus), an der es endlich konkret um Jessica und ihre Situation geht und wie sie letztendlich zu sich selbst findet.
Rein sprachlich fand ich das Buch spannend, vor allem, da das Alter von Sam hier gut wiedergespiegelt wurde. Auch die Listen, die er häufig gedanklich macht, waren witzig und teilweise auch sehr interessant. Gleichzeitig zeigt sich hier jedoch auch, dass der Autor mit Sicherheit auch mehr Handlungstiefe sprachlich gut hätte verpacken können.
Das Cover finde ich toll, die Idee mit der Regenbogenflagge sehr passend und auch die Typo finde ich gelungen. Allerdings habe ich, ausgehend vom Klappentext und Cover, mehr differenzierten und komplexeren Inhalt zum Thema Transgender erwartet.
Selbst wenn einem irgendwas vorkommt wie ein Megading, geht es irgendwann vorbei, und dann blickst du zurück und wunderst dich, warum alle so ein Theater gemacht haben.
Mein Bruder heißt Jessica, S. 210.
Mein Fazit
Insgesamt bin ich zwiegespalten, was das Buch angeht. Sprachlich finde ich es gelungen und Jason ist ein spannender Charakter, der leider zu wenig Präsenz im Buch bekommt. Der Fokus liegt stattdessen auf seiner Familie, wobei ich Sam mäßig furchtbar und seine Eltern sehr (!) furchtbar finde. Im Großen und Ganzen kann man das Buch glaube ich lesen, muss es aber nicht.
Daher bewerte ich “Mein Bruder heißt Jessica” mit
Eckdaten auf einen Blick
Titel: Mein Bruder heißt Jessica
Autor: John Boyne
Hier in Deutschland erschienen: September 2020
Genre: Jugendbuch / LGBTQ+
Empfohlen: ab 12 Jahren
ISBN: 3737342199
Seitenzahl der Printausgabe: 256 Seiten
Preis: 14€ als gebundene Ausgabe (z.B. bei Amazon*)
*sponsored post ~ Dieser Post ist in Kooperation mit dem Fischer Verlag entstanden. Das Buch wurde mir kostenlos für die Rezension zur Verfügung gestellt. Die Fotos sind selbst gemacht und ich gebe meine eigene Meinung wieder. Mehr dazu findet ihr in meinem Kooperationsstatement.
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